Posted: 2024-06-27 16:21:00

Forschende verschiedener universitärer Einrichtungen haben in einer gemeinsamen Studie eine zunehmende Polarisierung und Radikalisierung der deutschen Bevölkerung festgestellt. Dies sei bei den Reaktionen auf die Covid-19-Maßnahmen, dem Umgang mit dem Klimawandel, der Haltung zu Russland oder zuletzt bei der Eskalation des Nahost-Konfliktes zu spüren gewesen. In den Auseinandersetzungen scheine es immer mehr um „gut“ und „böse“ zu gehen als um Fakten, berichteten die Wissenschaftler/-innen am Donnerstag, dem 27. Juni.

Da fand eine Konferenz an der Universität Leipzig zur Vorstellung der zentralen Ergebnisse des vierjährigen Verbundprojekts „Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ (RIRA) statt.

„Die Radikalisierungsprozesse finden häufig mit Bezug auf eine als feindlich markierte Gegengruppe statt. Die Etablierung antidemokratischer Einstellungen in der Gesellschaft befeuert die Radikalisierungsprozesse zusätzlich“, erklärt die Leiterin des Projekts RIRA, Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Susanne Pickel von der Universität Duisburg-Essen. Diese antidemokratischen Radikalisierungsprozesse beginnen bereits bei den politischen und sozialen Einstellungen Jugendlicher, heißt es in der Studie.

Wann beginnt Radikalisierung?

Grundlage dafür waren eine gesamtdeutsche Bevölkerungsbefragung von 2.505 Frauen und Männern, eine Befragung unter 607 Muslim/-innen, Gruppendiskussionen, eine Schulbuchanalyse, eine quantitative Befragung von 405 Lehrer/-innen sowie Interviews mit Inhaftierten. Unter Muslim/-innen begünstigen der Studie zufolge ein religiöser Fundamentalismus, der bei 37 Prozent der Befragten vorzufinden ist, sowie ein tradierter Antisemitismus (39 Prozent), aber auch Diskriminierungserfahrungen von Muslim/-innen (55 Prozent) eine Radikalisierung.

„Muslim/-innen reagieren auf Entwicklungen im rechten Spektrum und sehen sich als Opfer der deutschen Gesellschaft“, beschreibt Religionssoziologe Prof. Dr. Gert Pickel von der Universität Leipzig ein weiteres Ergebnis der Studie. Er leitete das Teilprojekt „Bedrohungsgefühle als Faktoren anti-islamischer Radikalisierung und ihre pädagogische Bearbeitung“ von RIRA.

Nährboden für eine Radikalisierung zum Rechtsextremismus bei Nicht-Muslim/-innen sei die Zuschreibung zum Islamismus bei 44 Prozent der Befragten und eine Angst vor Muslim/-innen bei der Hälfte der Befragten gewesen.

„Es zeigt sich deutlich, dass Radikalisierungsprozesse nicht erst beginnen, wenn Anschläge stattfinden, die Saat wird bereits weitaus früher gelegt und geht dann in vielfältiger Weise als Ablehnung gegenüber Muslimen auf. Gerade wenn man sich von einer bestimmten Gruppe bedroht fühlt, wächst die Gefahr der Radikalisierung“, so Gert Pickel.

Die Rolle von Diskriminierungserfahrungen

Als genauso wichtig erweisen sich allerdings Diskriminierungserfahrungen von Muslim/-innen in Deutschland: 55 Prozent der Befragten wurden bereits mindestens einmal aufgrund ihrer Religion oder Herkunft diskriminiert und 44 Prozent leben in der Sorge, diskriminiert zu werden.

Frau Prof. Dr. Susanne Pickel. Foto: Universität Duisburg-Essen
Prof. Dr. Susanne Pickel. Foto: Universität Duisburg-Essen

„Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus können in Deutschland eine Radikalisierung in Richtung Islamismus fördern. Die Radikalisierung wird durch Bedrohungserfahrungen, radikalisierte soziale Netzwerke und Narrative der Gewaltakzeptanz befördert. Ein integratives soziales Umfeld kann hingegen Radikalisierungsprozesse unterbrechen“, sagt Susanne Pickel. Dies bestätigten auch Interviews mit Islamisten, die sich im Strafvollzug befinden.

Die Verfasser/-innen der Studie sehen es als problematisch an, dass nach Angaben von Lehrer/-innen 58 Prozent der Schüler/-innen keine Kenntnisse über Demokratie besitzen. Es sei aber auch „ausgesprochen gefährlich“, wenn bereits in Schulbüchern die Fremdheit und potenzielle Gefährlichkeit von Muslim/-innen betont werde. In der Befragung unter Lehrkräften gehen 65 Prozent davon aus, dass ihre Schüler/-innen islamistische, aber auch rechtsextreme Haltungen aus dem Elternhaus mitbringen.

Die Rolle von Intervention und Prävention

Wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen auch zeigen, handelt es sich allerdings nie um einen automatischen Prozess, der zwangsläufig in eine Gewaltanwendung mündet. Vielmehr gebe es auf allen Ebenen des Radikalisierungsprozesses die Möglichkeit zur Intervention und Prävention, die bereits bei politischen und sozialen Einstellungen beginnen müssen.

Im Forschungsprojekt wurden Demokratiestunden an Schulen etabliert, die für eine Deeskalation von potenziellen Radikalisierungsansätzen sorgen. Ein differenziertes, integratives Lehrmaterial mit persönlicher Ansprache der Schüler/-innen, zum Beispiel Podcasts über Muslime in Ostdeutschland, trage dazu bei, eine Radikalisierung im optimalen Fall gar nicht erst entstehen zu lassen.

Hintergrund: Zu den Dynamiken und Ursachen der gegenwärtigen Radikalisierungsprozesse mit Bezug auf den Islam forschten in den vergangenen vier Jahren acht Teilprojekte des Forschungsverbundes „Radikaler Islam versus radikaler Anti-Islam“ an vier deutschen Universitäten.

Dem Projektverbund gehören auch Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan von der Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Oliver Decker, Prof. Dr. Immo Fritsche und Prof. Dr. Frank Lütze von der Universität Leipzig, Prof. Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück sowie Prof. Dr. Riem Spielhaus vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Gerhard-Eckert-Institut Braunschweig an.

Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

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