Posted: 2024-04-19 13:45:00

Je mehr Details zur Einkesselung der Demonstration zum „Tag X“ am 3. Juni 2023 bekannt werden, umso mehr verdichtet sich der Verdacht, dass hier politisch agiert wurde und von einer sachlichen Lageeinschätzung der Polizei gar keine Rede sein kann. Immer mehr Aussagen zum „Tag X“ muss Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) korrigieren.

Er muss aber auch Fragen beantworten, die in der Großen Anfrage der Linksfraktion in Sächsischen Landtag zu den Vorgängen am 3. Juni 2023 in Leipzig noch verweigert wurden. Man kann es auch wohlwollend als das Versagen mehrerer Verantwortlicher interpretieren. Der ganze Vorgang sieht längst so aus, als hätten die Behörden am 3. Juni nur ein längst vorliegendes Drehbuch durchexerziert, das schon Wochen vor der Demonstration festlag. Und das die Polizei dann nicht mehr infrage stellte.

Dazu kommt, wie die Leipziger Linken-Landtagsabgeordneten Juliane Nagel feststellt, dass die Behörden die zentrale Versammlung zum Urteil im „Antifa Ost“-Prozess von Anfang an erschwert haben. Letzteres gelte wohl auch für die parlamentarische Aufklärung. Nicht nur wurde die Große Anfrage der Linksfraktion teils nicht oder nur ungenügend beantwortet, sondern es wurden auch offensichtlich veralte Daten verwendet, stellt Juliane Nagel fest.

Zu diesen und weiteren Aspekte musste sich das Innenministerium auf Nachfrage von Juliane Nagel nun äußern.

Eine Monate alte Gefahrenprognose

„Das Innenministerium räumt erst jetzt ein, dass die ‚finalisierte Gefahrenprognose‘ Monate vor dem ‚Tag X‘ stattfand. Zu diesem Zeitpunkt war weder ein Urteil im Prozess absehbar noch irgendeine Versammlung dazu in Leipzig angemeldet, deren Verlauf hätte ‚prognostiziert‘ werden können (Drucksache 7/16048).

Dennoch hat die Polizeidirektion behauptet, dass beispielsweise ‚Plünderungen‘ drohen würden, obwohl das nichts mit wirklichen ‚Lageerkenntnissen‘ zu tun hatte (Drucksache 7/16047)“, zählt Juliane Nagel all die Zerrbilder auf, mit denen der 3. Juni schon vorher belastet wurde.

Zerrbilder, nach denen dann auch die Leipziger Versammlungsbehörde agierte, die sich in der Regel stets auf die Gefahrenprognose der Polizei verlässt. Nur dass die Gefahrenprognose zum 3. Juni nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.

Dunkel gekleidete Personen auf einem Fußgängerweg
Versammlung am Alexis-Schumann-Platz in der Leipziger Südvorstadt. Foto: LZ

„Solche Fiktionen lagen dennoch der Allgemeinverfügung zugrunde, welche die Stadt Leipzig dann erließ. Zu einer potentiellen unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 15 Versammlungsgesetz lagen zum Zeitpunkt der Verbotsverfügungen offensichtlich keine ‚konkreten Erkenntnisse‘ vor“, merkt Juliane Nagel an. Fügt aber hinzu: „Allerdings gab es verantwortungslose, anonyme Gewaltaufrufe im Internet. Deren Urheber sind bis heute unbekannt und hatten keinen Bezug zu angemeldeten Versammlungen.“

So wurde die Demonstration in Leipzig im von der Polizei erdachten „Szenario“ ganz ähnlich wie die Ausschreitungen zum G20-Gipfel in Hamburg 2017 gewertet.

Drastisch beschnittenes Versammlungsrecht

„Das war überzogen, genau wie die 17 angeforderten Wasserwerfer. Letztlich fanden sich an dem Tag lediglich etwa 2.000 Menschen ein, eine ganz andere Größenordnung als erwartet“, so Juliane Nagel. „Es irritiert auch, dass das Innenministerium nun erst auf ausdrückliche Nachfrage einräumt, dass die Teilnehmenden der erlaubten Versammlung ausgezählt worden waren (Drucksache 7/16045). In unserer Großen Anfrage war der veraltete Wert von 1.500 Personen angegeben worden.“

Die nachträgliche Auszählung ergab dann die 2.000 Teilnehmer.

„Auch erst jetzt wird eingeräumt, dass die anmeldende Person der dann verbotenen ‚Tag X‘ – Demonstration erst unmittelbar vor der Verbotsverfügung angehört wurde, als das Verbot schon wochenlang angedacht worden war. Somit wurden der Anmeldung offenbar absichtlich nur minimale Chancen gelassen, Bedenken auszuräumen“, geht Juliane Nagel auf den amtlichen Versuch ein, möglichst alle Demonstrationen an diesem Tag von vornherein zu untersagen.

„Es war offenbar gar nicht erwünscht, dass die Mobilisierung in jenen gemäßigten friedlichen Bahnen verläuft, für die beispielsweise mein Abgeordnetenbüro öffentlich geworben hatte. Von den Verboten waren dann insgesamt 16 Versammlungen betroffen – die Versammlungsfreiheit wurde tagelang massiv eingeschränkt. Das ist keine Bagatelle. Selbst Rechtsanwältinnen und -anwälte, die am Amtsgericht ihre Mandate wahrnahmen, wurden gekesselt und mit Platzverweisen belegt (Drucksache 7/16046).“

Kessel Alexis-Schumann-Platz. Foto: Tom Richter
Kessel am Alexis-Schumann-Platz. Foto: Tom Richter

Die Antwort des Innenministeriums spricht zumindest von einer betroffenen Rechtsanwältin, die ihre Kanzlei im Gebiet der Demonstration hat. Aber das eigentlich Prekäre an dieser Antwort von Innenminister Armin Schuster ist seine Aussage, dass die Ermittlungen rund um das Demonstrationsgeschehen auch zehn Monate später noch immer laufen.

Man hat einen riesigen Berg von Anzeigen produziert, um ganz offensichtlich im Nachhinein das massive Polizeiaufgebot und die stundenlange Einkesselung irgendwie noch zu rechtfertigen.
Doch vieles von dem, was die Polizei gleich nach dem Einsatz vermeldete, war schlichtweg falsch.

Starke Zweifel an der Professionalität der Einsatzleitung

„Nachdem die behaupteten ‚Anschläge‘ auf private PKW von Polizeibediensteten bereits als Ente entlarvt waren (Drucksache 7/14904), gibt das Innenministerium nun auch zu, dass im Kessel keine ‚Teleskopschlagstöcke‘ gefunden wurden. Die Polizei habe ausziehbare Fahnenstangen nicht von solchen unterscheiden können (Drucksache 7/16044). Dies weckt starke Zweifel an Professionalität und Sorgfalt der Polizei“, sagt Juliane Nagel.

„Pikant an dem Widerruf ist, dass die Falschbehauptung mehrere Tage nach dem Geschehen per Pressemeldung der Polizei Leipzig in Umlauf gebracht wurde.“

Als Landtagsabgeordnete ist sie zutiefst verärgert darüber, dass die nachfragenden Fraktionen nur häppchenweise weitere Informationen über die behördlichen Einsatzplanungen und die Durchführung bekommen.

Das zeige, so Juliane Nagel: „Innenminister Armin Schuster sperrt sich weiter einer kritischen Aufarbeitung. So wächst der Eindruck, dass Parteiinteressen über einem professionellen und grundrechtswahrenden Umgang mit dem Demonstrationsgeschehen standen und stehen sollten. Die CDU hat offenbar darauf hingewirkt, im Vorfeld ein Schreckensszenario zu zeichnen, und damit alles andere als deeskalierend gewirkt.

Das ist nichts Neues von einem Innenminister, der seit seinem ersten Tag im Amt vor allem Wahlkampf macht. Es sind noch längst nicht alle Ungereimtheiten und Widersprüche aufgeklärt.“

Sie will jedenfalls dranbleiben an diesem Thema.

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